„Ohne eigenes Auto in Stephanskirchen – wie geht das denn?“
Ein Besuch bei Familie Schiller-Eckert-Hennings
Ihr seid also eine autofreie Familie – wer gehört denn alles zu Eurer Familie?
Nicole Eckert: Wir sind eine Patchwork-Familie mit fünf Kindern zwischen 4 und 13 Jahren.
Seit wann habt Ihr kein Auto mehr oder hattet Ihr noch nie eins?
Vor zwei Jahren haben wir unser letztes Auto abgemeldet. Es stand nur rum und hatte keinen TÜV mehr. Wir haben uns dann an einem Crowd-Funding eines Startups für E-Autos beteiligt und unser Hausdach mit Photovoltaik-Zellen ausgestattet. Eigentlich dachten wir, dass das mit dem E-Auto schneller klappen würde, aber mittlerweile kommen wir ziemlich gut ohne eigenes Auto zurecht.
Nutzt Ihr vielleicht heimlich andere Autos? Von Freunden, Mietwagen, Carsharing?
Carsharing könnten wir uns gut vorstellen, wird hier aber leider (noch?) nicht angeboten. Freunde leihen uns – ganz ohne Heimlichtuerei – freundlicherweise häufig Ihren VW-Bus fürs Wochenende. Ansonsten nehmen wir auch mal einen Mietwagen oder das Auto der Großeltern.
Ok, wie kommt Ihr denn zum Arbeitsplatz, Schule und Kindergarten?
Zur Arbeit fahren wir immer mit dem Rad – auch in Kombination mit der Bahn nach München. Die großen Kinder radeln runter nach Rosenheim zur Schule. Wenn das Wetter mal gar nicht mitspielt oder sie nicht radeln wollen, können sie natürlich auch immer den Bus nehmen. Die Kleinste wird noch im Radlanhänger zum Kindergarten chauffiert.
Habt Ihr keine Angst, die Kinder mit den Rädern loszuschicken?
Am Anfang hatten wir schon häufiger ein mulmiges Gefühl. In der ersten Zeit haben wir sie immer begleitet und auf die gefährlichsten Stellen der Strecken hingewiesen. Aber wir vertrauen unseren Kindern, dass sie diese Wege meistern. Klar achten wir auf eine sichere Ausstattung der Räder (Spikereifen im Winter, Beleuchtung, gute Bremsen…) und gute Helme.
Komplizierter wird es aber mit den Einkäufen. Stichwort Biertragl. Oder die wöchentliche Fahrt zur Wasserstelle der Neuzeit – dem Wertstoffhof?
Milch und Semmeln werden uns geliefert. Wir trinken hauptsächlich Wasser aus der Leitung. So richtige Großeinkäufe machen wir nicht, so dass alles auf dem Rad oder notfalls im Radlanhänger transportiert werden kann. Wir achten beim Einkauf darauf, Kunststoff-Verpackungen zu vermeiden, und somit müssen wir auch ziemlich wenig zum Wertstoffhof bringen. Unser Opa nimmt aber netterweise alle paar Wochen unsere Sachen mit.
Kommen wir zum Thema Freizeit, laut Umweltbundesamt macht dieser Bereich über ein Drittel des motorisierten Individualverkehrs aus: Häkeln und Modelleisenbahn Spielen sind in der Regel ohne eigenes Kfz zu erledigen.
Aber: Hockeytraining in Rosenheim (evtl. mit Fahrdienst zu Auswärtsspielen), Reitunterricht in Unterwieselharing, Besuch eines Erlebnisbades oder Ausflüge in die Berge: Heißt es hier Verzichten oder Radfahren? Oder nutzt Ihr das (sagenhafte) Angebot an Busverbindungen?
Ja, das Angebot des ÖPNV ist natürlich verführerisch. Spaß beiseite, nicht alle Wege schaffen wir ohne Auto. Aber zu den meisten Freizeitaktivitäten wie Klavierunterricht oder Sportverein in Waldering nehmen wir die Räder. Wir sind nicht dogmatisch, was den Autoverzicht angeht. Aber gerade unsere Kinder haben einen gewissen Ehrgeiz entwickelt. Fridays for Future spielt da auch eine Rolle.
Wir sind gerne und viel in den Bergen. Dafür nutzen wir dann die eingangs erwähnten Autos von Freunden, Großeltern oder Mietwagenfirmen. Durch die breite Palette an Angeboten können wir die Wagengröße immer an die Anzahl der Mitfahrer anpassen, so dass hier nicht unnötig Luft durch die Gegend gefahren wird.
Sie sind Ärztin, das macht die Sache etwas einfacher. Aber viele werden sich fragen, wie sie ohne Auto zum Arzt etc. kommen könnten. Wie sehen Sie das?
Es gibt Taxis und für Notfälle den Rettungsdienst. Das geht also ohne eigenes Auto. Wer wirklich krank ist, sollte auch nicht selbst Auto fahren.
Gibt es Momente, bei denen Sie Ihr eigenes Auto vermissen?
Klar hat man sich über Jahrzehnte an den Komfort gewöhnt, ständig ein Auto zur Verfügung zu haben. Auch weil die Infrastruktur voll und ganz auf das Auto ausgerichtet ist. Aber mittlerweile kommen wir ausgezeichnet ohne eigenes Auto zurecht.
Bundesweit kommen auf 1000 Einwohner 568 Kfz (Quelle: Umweltbundesamt, Bezugsjahr 2018). Wenn man durch die Wohnsiedlungen in Stephanskirchen spaziert, sieht man rund 2 Autos pro Wohneinheit in der Garage, dem Vorplatz oder auf der Straße stehen. Wie sieht Ihr Fuhrpark aus?
Wie Du sehen konntest, haben wir wirklich viele Fahrräder: Kleine, große, Mountainbikes, Rennräder, Trekkingbikes, ein E-Bike, Fahrradanhänger und ein Tandem, das so umgebaut werden kann, dass hinten auch kleinere Kinder mitstrampeln können. Wir sind aber auch eine Großfamilie und gönnen uns gerne hochwertige Räder. Alle sollen sich auf ihrem Rad wohlfühlen und sicher unterwegs sein.
Kann man grob abschätzen, wie sich die Kosten im Vergleich zu früher verändert haben?
Wir haben keine Bilanz geführt, aber zumindest gefühlt ist es günstiger als früher. Anschaffung und Betrieb eines neuen Autos in der für uns passenden Größe wären auf jeden Fall teurer. Für Mietfahrzeuge zahlen wir rund 3000,- Euro pro Jahr. Das hört sich vielleicht zunächst auch nach viel an. Wir zahlen aber keine Kfz-Steuer, keine Versicherung, keine Werkstatt, haben keinen Wertverlust…
Die Räder warten und reparieren wir in der Regel selbst.
Seid Ihr schon immer eine sportliche Familie oder ist das ein positiver Nebeneffekt des Autoverzichts?
Wir waren schon immer sportlich und viel in den Bergen unterwegs.
Wie schaut der klassische Urlaub bzw. dessen Planung in Eurer Familie aus?
Den einen klassischen Urlaub gibt es bei uns nicht. Ein Jahr leihen wir uns den VW-Bus und fahren Richtung Süden, 2017 sind wir zu siebt mit den Rädern von Prag nach Berlin gefahren. Übernachtet wurde im Zelt, wir hatten also alles auf den Rädern dabei! Für die An- und Rückreise nutzten wir die Bahn. Dann gab es auch schon Radreisen von einer zur nächsten Jugendherberge. Es gibt wirklich viele Möglichkeiten, um auch ohne Flug spannende und erholsame Urlaube zu verbringen.
Seit einigen Jahren gibt es Online-Tools zur Berechnung des eigenen ökologischen Fußabdrucks. Schon mal ausprobiert?
Ja, das haben wir tatsächlich. Wir sind – ökologisch gesehen – schon besser als der Durchschnitt. Weitere Einsparungen wären für uns ziemlich schwierig und mit echtem Verzicht verbunden. Erschreckend ist, dass wir immer noch deutlich über der Grenze liegen, die umgerechnet auf die Weltbevölkerung nachhaltig wäre.
Was wäre Eurer Meinung nach notwendig, damit andere Menschen hier in Stephanskirchen häufiger oder ganz aufs (eigene) Auto verzichten?
Ganz eindeutig eine sicherere und einladendere Infrastruktur für Radler, insbesondere auf den Wegen zu den Schulen. Dazu zählen auch mehr und attraktivere Stellplätze für Fahrräder. Die besten Plätze müssten unserer Meinung nach für Fahrräder reserviert sein.
E-Bikes und Lastenräder sind unheimlich praktisch für den Einkauf und den Weg zur Arbeit. Hier fehlt es unserer Meinung nach an entsprechenden Aktionen, bei denen diese ausprobiert werden können. Nicht jeder braucht ein eigenes E-Lastenrad. Hier könnten entsprechende Fahrzeugpools mit Lademöglichkeit geschaffen werden. Eine finanzielle Unterstützung durch die Gemeinde wäre sicher ein weiterer Anreiz.
Gleichzeitig gibt es beim ÖPNV viel Verbesserungspotential: ein einheitliches Preissystem, abgestimmte Fahrpläne, mehr Fahrten zu den Stoßzeiten und auch abends und am Wochenende.
Was könnt Ihr anderen Familien / Haushalten empfehlen, wenn diese über die Abschaffung des eigenen Kfz nachdenken? Gibt es empfehlenswerte Lektüre?
Spezielle Literatur kennen wir leider nicht. Man kann uns natürlich gerne fragen! Wenn es um die Anschaffung von Fahrrädern gibt, empfehlen wir dringend lokale, evtl. auch spezialisierte Fahrradgeschäfte. Wenn man Vergleichsportale nutzt, kann man bei der Automiete viel Geld sparen.
Grundsätzlich gilt: Einfach ausprobieren und das Auto mal so lange wie möglich stehen lassen. Man profitiert selbst davon, denn Radfahren macht Spaß, es hält fit – auch geistig, und man spart sich das Fitnessstudio. Außerdem trägt man zum Klimaschutz bei!
Vielen Dank für Eure Zeit! Wir wünschen viele weitere tolle Radreisen und ein unfallfreies Vorwärtskommen!
Das Interview mit Nicole Eckert führte Tobias Herrmann.
Frank Wiens
Ehrenamtlicher Radverkehrsbeauftragter
der Gemeinde Stephanskirchen
Telefon: 08036 3038060
E-Mail: fahrrad-stephanskirchen@web.de